Wie viele ABs gibt es?

In meiner 3. Podcastfolge habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie viele Absolute Beginner – also Menschen ohne Beziehungserfahrungen – es eigentlich gibt. Etwas genauer: welchen Anteil einer Bevölkerung sie mutmaßlich ausmachen. Denn, gern werden mal absolute Zahlen und mal der prozentuale Anteil genannt. Beides gehört zwar zusammen, aber um nicht durcheinander zu kommen, beziehe ich mich bewusst auf den Anteil.

Ich bitte um Rückmeldung, sowohl bei Fehlern in der Wiedergabe und Interpretation der Befunde, als auch bei übersehenen oder neuen Quellen. Vielen Dank!

Heinrich
tl;dr: Die bisherige Studienlage lässt keinen belastbaren Rückschluss auf den Anteil an Absoluten Beginnern in Deutschland oder in einem anderen Land zu. Das liegt an ihrer immer noch geringen Anzahl, ihren stark unterschiedlichen Ergebnissen und daran, dass sie sich hauptsächlich auf (hetero)sexuelle Erfahrungen fokussieren. Dennoch hat ihre Anzahl zugenommen, was auf ein wachsendes Forschungsinteresse hindeutet.

Zu meiner großen Überraschung gibt es mit der Zeit etwas mehr Studien dazu, die sich hauptsächlich oder nebensächlich mit dieser Frage beschäftigen. Bisher wurden in Publikationen nur vereinzelt welche genannt, was bei mir bislang den Eindruck erweckte, dass es auch nur ebenso wenige gäbe.

Beispielsweise nennt der Psychologe Dr. Armin Kaser auf seiner Webseite drei Quellen:

Im Buch Unberührt – Menschen ohne Beziehungserfahrungen – Wege zur erfüllter Liebe und Sexualität von Arne Hoffmann (2006) kommt Wolfgang Cronrath zu Wort. Dieser gibt eine eigene Schätzung von ungewollt beziehungslosen Menschen in Deutschland ab und zitiert zudem eine unveröffentlichte Studie „Studentensexualität“ von Kurt Starke (2002), nach dieser etwa 10 % der Universitätsabsolventen mit 29 Jahren noch nie Sex gehabt haben sollen. Leider ist diese Studie für mich nicht auffindbar.

In der Einleitung seines Buches führt Arne Hoffmann aus: „Der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge umfasst die Gruppe der ‚Jungfrauen über 18‘ etwa ein Drittel dieser Altersgruppe.“ Unabhängig davon, das die Obergrenze dieser Altersgruppe nicht genannt wird, entgegnet Robert Sprenger (2014) in seinem Buch Männliche Absolute Beginner – Ein kommunikationswissenschaftlicher Ansatz zur Erklärung von Partnerlosigkeit in der Fußnote 45 Seite 40: „Die weiteren (vornehmlich in Zeitschriften und Internet-Artikeln kursierenden) Zahlen können nach genauerer Recherche nicht bestätigt werden. So wird bspw. häufig die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit dem Befund angeführt, dass die Zahl der ‚Jungfrauen über 18‘ ein Drittel dieser Altergruppe ausmache (vgl. Hoffmann 2006, S. 8). Die Redaktion der BZgA kann sich jedoch nicht erklären, auf welche ihrer Publikationen diese Zahl basieren soll.“

Ebenda beschreibt Sprenger die Datenlage zu Absoluten Beginnern als prekär und dass es bislang (bis 2014) dazu kaum belastbare Quellen gibt. Er verweist auf die im Auftrag von ZeitWissen (2005) durchgeführte Umfrage der Infratest Dimap und bestätigt die Angabe von 2 % unter den 18 bis 29 jährigen von Dr. Kaser. Hoffmann gibt mutmaßlich diese Studie ebenfalls wieder, aber ohne Nennung einer Jahreszahl und mit der Angabe, dass fast 10 % aller 30 jährigen Männer noch nie Sex gehabt haben hätten. Des Weiteren verweisen Sprenger (Fußnote 44) und Hoffmann auf eine Befragung des Gewis-Instituts im Auftrag der Zeitschrift „Laura“ die ergab, dass um die 5 % der etwa 1.000 befragten Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren noch nie Sex gehabt haben. Sprenger bestätigt Hoffmann und Cronrath darin, dass 10 % der Studierenden (nicht der Absolventen) noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht hätten. Immerhin diese 10-Prozent-Angabe Hoffmanns scheint zu stimmen1. Dabei bezieht Sprenger sich aber auf Starke (1996) und nicht auf Starke (2002), die ihm zudem auch vorlag und gibt an, dass diese in Schmidt et. al (2000) veröffentlicht wurde.
Überdies bestätigt er die Angaben von Dr. Kaser von 7,5 % bei Frauen und 14 % bei Männern (genauer: 13,7 %), die ebenfalls dort genannt werden, auch wenn es mir nicht möglich war, sie in Schmidt et. al. (2015) wiederzufinden.

Es ist zu vermuten, dass Dr. Kaser sich auf Sprenger beruft. Denn weder die Primärquellen, noch die referenzierten Sekundärquellen (Neon und ZeitWissen) waren für mich so auffindbar, dass ich die Zahlen überprüfen konnte.


Es bleibt also festzustellen, dass bis Mitte der 2010er Jahre die Erhebungen sich auf die Studien von Starke (1996/2002), bzw. Schmidt et. al. (2000) und einigen Umfragen beschränken. Auch wenn die Umfragen berücksichtigt werden sollten, so kann ihnen nicht der gleiche Stellenwert eingeräumt werden, wie einer kontrollierten und peer-reviewten Studie.

Es ist unklar, ob Sprenger mit „Allerdings sind die beiden Erhebungen bislang die einzigen, die substanzielle quantitative Aussagen über das Phänomender ‚männlichen Absoluten Beginner‘ liefern.“ auch eine der beiden Umfragen meint, da im Text kurz vor diesem Hinweis ZeitWissen (2005), Neon (2008), Starke (1996) und Baas et. al. (2008) erwähnt werden.

Im Endeffekt ist die Datenlage mangelhaft. Quellen sind nicht, oder nicht ohne Weiteres auffindbar. Sie werden zuweilen ungenügend oder inkorrekt wiedergegeben. Zudem beschäftigen sie sich ausschließlich mit sexuellen Erfahrungen, nicht aber mit Partnerschaft, weshalb sie leider keine belastbare Vermutung über den Anteil an Menschen ohne Beziehungserfahrungen – z.B. in Deutschland – zulassen und für die Frage nach ungewollter Beziehungslosigkeit ohnehin uninteressant sind.


Was aber, wenn die Daten- und Studienlage hinsichtlich des Anteils von Absoluten Beginnern in der Bevölkerung wesentlich umfangreicher wäre?

Es wäre womöglich dadurch auch weitere Erkenntnisse abzuleiten oder zumindest Hypothesen über diese zu formulieren. Etwa, wie sich der Anteil an Menschen ohne Beziehungserfahrungen, oder an Menschen die unter ungewollter Beziehungslosigkeit leiden, über die Jahre verändert hat. Man könnte aber auch einen Vergleich zwischen verschiedenen Ländern, Regionen und Kulturen anstellen und Unterschiede feststellen. Ebenso könnte man nach einem Stadt-Land-Gefälle oder in der Bundesrepublik nach einem Ost-West-Gefälle suchen. Auch mögliche sozioökonomische Einflussfaktoren könnten erkennbar werden.

Deshalb habe ich mich mal auf die Suche nach weiteren Studien gemacht.
Folgende Studien konnte ich finden und erachte ich als relevant:

Name der Studie und Link / Autor (Jahr)
Land/RegionErgebnisseBemerkungen
Who is the 40-year-old virgin and where did he/she come from? Data from the National Survey of Family Growth / Michael Eisenberg et. al (2009)
USAMänner: 13,9 %
Frauen: 8,9 %
– Unverheiratete Menschen ohne sexuelle Erfahrungen im Alter von 25 bis 45 Jahren.
– Prozentwerte entsprechen 1,1 Mio. Männer und 0,8 Mio. Frauen dieser Alterskohorte in den USA.
Nachgerechnet komme ich auf andere Werte:
Männer: 122/841 = 14,5 %
Frauen: 104/1416 = 7,3 %
Prevalence and types of sexual inactivity in Britain: analyses of national cross-sectional probability survey data / Ueda P, Mercer CH (2019)
UK/BritainMänner: 304/7245 = 4,2 %
Frauen: 268/7410 = 3,6 %
– Menschen ohne sexuelle Erfahrungen
– Prozentwert bezieht sich auf Teilnehmende der Studie
– Prozentwert errechnet durch mich
Life without sex: Large-scale study links sexlessness to physical, cognitive, and personality traits, socioecological factors, and DNA / Abdel Abdellaoui (2025)
UK/AustraliaMänner: 1 %
Frauen: 1 %
– Weitere 1 % gaben an asexuell zu sein. Eine starke Überlappung beider Gruppen ist denkbar.
Virgins at age 26: who are they? / Marion Meuwly (2021)
SchweizMänner: 3,1 %
Frauen: 2,2 %
– Ausschließlich „Jungfrauen“ im Alter um die 26 Jahre wurden untersucht.
– Werte wurden von mir errechnet, basierend auf den Werten:
→ Anteil der „Jungfrauen“ an der Teilnehmerzahl: 5,3 %
→ Anteil der Männer an den „Jungfrauen“: 58%
Trends in heterosexual inexperience among young adults in Japan: analysis of national surveys, 1987–2015 / Cyrus Ghaznavi (2019)
JapanMänner: 25,8 %
Frauen: 24,6 %
– Zahlen nur für 2015
– Menschen ohne heterosexuelle Erfahrungen
– Starker Anstieg über die letzten 2 Jahrzehnte
Sexual Abstinence and Associated Factors Among Young and Middle-Aged Men: A Systematic Review / Muhammad Irfan (2019)
Verschiedene Länder weltweitMänner: 0 % bis 83,3 %
(je nach Altersgruppe und Region)
– Metastudie über 37 Studien
– Ausschließlich die (primäre und sekundäre) Sexlosigkeit bei Männern unter 60 Jahren.

Selbst für ungeübte Laien wie mich ist leicht zu erkennen, dass sie alle innerhalb der letzten Dekade veröffentlicht wurden. Auch wenn es sich dabei lediglich um Sechs an der Zahl handelt, könnte das ein Indiz dafür sein, dass das Phänomen „Menschen ohne Beziehungserfahrungen“ immerhin zu einem Nischenthema aufgestiegen ist und dass das Forschungsinteresse an diesem zu steigen beginnt.

Des Weiteren fällt auch dem Laien die erhebliche Streuung zwischen den Werten auf. Ein Eindruck, der durch die zuvor genannten Erhebungen bestärkt wird. Abhängig von Untersuchungszeitpunkt oder -Zeitraum, Erhebungs- und Untersuchungsmethoden, der untersuchten Bevölkerungen oder Bevölkerungsteile (Gechlechter, Millieus, Kohorten, etc.) und der genauen Fragestellung, stellten sich erhebliche Unterschiede in den Befunden ein. Deshalb kann hier bei weitem noch nicht von einer Studienlage gesprochen und die Studien müssen als Stichproben betrachtet werden.

Ignoriert man aber erst einmal die Studie aus Japan von Ghaznavi (2019) mit ihren auffallend hohen Ergebnissen und die weltweite Übersichtsstudie von Irfan (2019), die ebenfalls teilweise enorm hohe Werte aufweist, so vermute ich einen prozentualen Anteil an Absoluten Beginnern in Deutschland von 1 % bis 3 %, was bei 69,7 Mio. Erwachsenen (83,1 % von 84 Mio.) in Deutschland rund 700.000 bis 2,1 Mio. betroffene ausmachen dürfte.

Natürlich lassen sich auch beliebig andere Vermutung basierend auf diesen Ergebnissen aufstellen, die allesamt genauso wenig belastbar sind wie meine. Es ist jedoch zu bedenken, dass der Abstand zur Untergrenze von (theoretisch 0 %) wesentlich kleiner ist, als der Abstand zur Obergrenze (theoretisch 100%), was nicht nur einen erheblicheren Spielraum für das Dunkelfeld nach obenhin bietet, sondern auch für methodische und statistische Fehler. Zudem scheinen die Ergebnisse dann größer auszufallen, wenn sie nur bestimmte Kohorten oder Milieus betreffen, nicht aber die Grundgesamtheit aller Erwachsenen.

Es fällt auf, dass diese Studien erneut nur die sexuellen Erfahrungen untersuchten und die partnerschaftlichen Beziehungserfahrungen ignorierten, was wesentliche Teile von Menschen ohne Beziehungserfahrungen und jene mit ungewollter Beziehungslosigkeit unterschlägt. (Natürlich geben die Studien, auch jene die ich nicht betrachtet habe, Auskunft über längere sexuelle Abstinenz. Aber von diesen Zahlen auf die Umstände zu schließen, als ob das gewollt oder ungewollt ist, ist mir nicht möglich.) Des Weiteren sind sie allesamt streng cis-hetero-normativ ausgerichtet und berücksichtigen queere Menschen gar nicht. Das bietet Potential für viele blind spots und verstellt den Blick auf mögliche Erkenntnisse hinsichtlich dem Fehlen von Beziehungserfahrungen (aber auch von ungewollter Beziehungslosigkeit). Das gilt sowohl für die hier ignorierten, oder womöglich fehlinterpretierten Menschen, als auch für die Grundgesamtheit aller Betroffenen.
So ist es denkbar, dass – wenngleich der Anteil an trans Personen unter den Absoluten Beginnern gering ausfallen dürfte, da ohnehin schon der Anteil der trans Personen an der Gesamtbevölkerung bei unter 1 % liegen dürfte – nicht so einfach angenommen werden kann, dass der Anteil an ABs unter den trans Personen ebenfalls gering ausfällt. Dysphorie, ein nicht akzeptierendes und unterstützendes, vielleicht sogar feindliches Umfeld, Behinderungen von Therapien und Angleichungen und etwaige Folgeprobleme, können durchaus auch Einfluss auf das Finden von geeigneten Beziehungspartnern haben.

Bezüglich etwaiger Trends und regionaler oder kultureller Unterschiede kann nur ausgesprochen wenig gesagt werden. Die japanische Studie von Ghaznavi (2019) untersuchte aber 7 Erhebungen von 1987 bis 2015 und lässt so innerhalb ihrer Fragestellungen eine Trendanalyse zu. Zudem untersuchte sie die Ergebnisse getrennt nach 5 Altersgruppen, was einen detailierteren Blick ermöglicht.

Auffallend ist, dass sich für beide Geschlechter die unteren Altersgruppen (18 J. bis 24 J.), von den beiden oberen Altersgruppen (30 J. bis 39 J.) und der mittleren Altersgruppe (25 J. bis 29J.) unterscheiden. In den beiden oberen Altersgruppen beider Geschlechter ist ein leichter Aufwärtstrend zu verzeichnen. Allerdings sind hierbei die Werte an heterosexueller Unerfahrenheit im Vergleich zu den anderen Altersgruppen recht gering. Die mittlere Altersgruppe fällt bei beiden Geschlechtern recht konstant aus. Die unteren Altersgruppen fallen damit auf, dass die Werte erst abfallen und anschließend wieder zunehmen, so dass sich der jeweils jüngste Wert (’87) vom jeweils ältesten Wert (’15) trotz großer Schwankung nur minimal unterscheidet. Vergleicht man den jeweils jüngsten mit dem jeweils ältesten Wert, so liegt dieser bei beiden Altersgruppen bei den Frauen stets darunter, weshalb noch eine geringe Abnahme über die Zeit zu erkennen ist. Bei den Männern hingegen liegen beide Werte in der untersten Altersgruppe (18 J. bis 19 J.) nahezu gleich auf, weshalb eine Konstanz zu erkennen ist. Bei der Altersgruppe 20 J. bis 24 J. ist jedoch ein deutlicher Anstieg zu erkennen.

Während bei den oberen Altersgruppen ein leichter Anstieg erkennbar ist, ist das Bild bei den unteren Altersgruppen, welche zudem noch den höchsten Einfluss auf den Gesamtwert haben, sehr gemischt, weshalb ein deutlicher Trend schwer abzulesen ist. Am Ehesten ist jedoch nicht von einer deutlichen Zunahme an ABs in Japan auszugehen. Für Annahmen, dass dies in Deutschland oder weltweit der Fall sei fehlen die Daten.

Für einen regionalen Vergleich bietet sich die weltweite Übersichtsstudie von Irfan (2019) vom Prinzip her an. Allerdings sei hier erwähnt, dass zum Beispiel Deutschland nur mit einer Studie vertreten ist, die zudem auch nur die sexuelle Aktivität von Männern der vorangegangenen 11 Jahre untersucht, weshalb ich sie nicht als relevant eingeschätzt habe. Möchte man also regionale Unterschiede anhand dieser Übersichtsstudie untersuchen, so müssten alle vergleichbare Studien entfernen, die keine Aussagen über Menschen ohne (sexuelle) Beziehungserfahrungen zu lassen und sich nur auf die Länder und Regionen stützen, deren verbliebenen Studien belastbare Aussagen über den Anteil an den genannten Alterskohorten zulassen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass sich diese Übersichtsstudie ohnehin nur mit jüngeren und mittelalten Männern beschäftigt.

Eine solche Analyse scheue ich nicht nur wegen des erwartbaren hohen Aufwands, sondern auch, weil sie nur eine optionale Analyse bei einer hinreichenden Datenlage darstellt, nicht aber Teil der Fragestellung ist, wie viele ABs es wohl geben mag.


Fazit: Wir brauchen mehr Forschung!
Wir wissen schlicht nichts gesichert über die Anzahl oder den Anteil von ABs und können nur wenig verlässlich sagen.


  1. Es ist jedoch zu beachten, dass dies nur ein Befund über das akademische Milieu ist und keine direkte Aussage auf die Prävalenz (Häufigkeit) in der Bevölkerung zulässt. Allgemein darf angenommen werden, dass die Annahmen von Hoffmann und Cronrath zu hoch angesetzt sind. ↩︎